Gasmangellage: Außerordentliches gesetzliches Preisanpassungsrecht für Energieversorgungs-unternehmen bei erheblich reduzierten Gasimporten (§ 24 EnSiG)

Juni 2022
Dr. Stefan Tüngler
Gasmangellage: Außerordentliches gesetzliches Preisanpassungsrecht für Energieversorgungs-unternehmen bei erheblich reduzierten Gasimporten (§ 24 EnSiG)

Nach wie vor beherrscht der Krieg in der Ukraine das politische Geschehen. Seine alsbaldige Beilegung ist das oberste Ziel nahezu aller demokratischen Staaten, deren Verhältnis zu Russland angespannter denn je ist. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Energiemärkte: Während die eine Seite Energie als Waffe einsetzt, versucht die andere, ihre Abhängigkeit von russischen Primärenergien zu beseitigen.

Diese Ausgangslage hat den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Er erkannte kurzfristigen Änderungsbedarf an dem aus dem Jahr 1975 stammenden Energiesicherungsgesetz (EnSiG). Es ging darum, die schnelle Handlungsfähigkeit auch im Fall einer erheblichen Beschränkung oder eines vollständigen Ausfalls russischer Gaslieferungen zu gewährleisten. Das wiederum erklärt die außergewöhnlich kurze Beratungszeit. Die Novellierung des Energiesicherungsgesetzes wurde innerhalb von weniger als einem Monat beraten und verabschiedet. Das Gesetz zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes 1975 und anderer energiewirtschaftlicher Vorschriften (EnSiGuaÄndG) ist am 22. Mai 2022 in Kraft getreten.

Neben Regelungen zur Einführung einer digitalen Plattform, um im Notfall die Lastverteilung effektiv steuern zu können, der Einführung von Regelungen zur Treuhandverwaltung und zur Enteignung von Unternehmen der Kritischen Infrastruktur verankert es in § 24 EnSiG für den Fall erheblich verminderter Gasimporte ein (Sonder-)Preisanpassungsrecht. Es zielt auf die Verhinderung eines kaskadenartigen Marktzusammenbruchs und ist daher ein (insolvenzpräventives) Instrument zum Schutz der Energieversorgungsunternehmen vor finanzieller Überlastung.

1. Anwendungsbereich

Das Preisanpassungsrecht nach § 24 EnSiG setzt voraus,

  • dass die Alarm- oder Notfallstufe nach Art. 8 Abs. 2 lit. b) und Art. 11 Abs. 1 VO (EU) 2017/1938 in Verbindung mit dem Notfallplan Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019 ausgerufen und
  • eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland von der BNetzA festgestellt wurde.

Die Feststellung einer erheblich reduzierten Gesamtgasimportmenge obliegt aus Gründen der Rechtssicherheit der BNetzA. Sie ist verpflichtet, diese Feststellung unverzüglich aufzuheben, wenn eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland nicht mehr vorliegt, spätestens jedoch, wenn weder die Alarm- noch die Notfallstufe fortbestehen.

Das Preisanpassungsrecht bezieht sich auf alle von einer erheblichen Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland betroffenen Energieversorgungsunternehmen. „Betroffen“ sind nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktionen Energieversorgungsunternehmen, wenn und soweit sich die Gasminderlieferungen „konkret preislich“ auf sie auswirken. Die konkrete preisliche Betroffenheit muss aus der Notwendigkeit zur Ersatzbeschaffung wegen Ausfalls von Gasimportmengen resultieren; eine allgemeine Betroffenheit dergestalt, infolge einer Ausrufung der Alarm- oder Notfallstufe und einer erheblichen Reduzierung der Importmengen höhere (Markt-)Preise für den Gasbezug zahlen zu müssen, genügt nicht.

Die konkrete preisliche Auswirkung betrifft aber nicht nur die importierenden Gasgroßhändler, die auf der ersten Stufe der Lieferkette tätig sind, sondern auch alle in der Lieferkette nachgelagerten Energieversorgungsunternehmen. „Lieferkette“ meint die Gaslieferkette, beginnend vom importierenden Großhandelsunternehmen bis hin zum letztverbraucherbeliefernden Gaslieferanten, einschließlich aller Zwischenhändler, sofern es sich um Energieversorgungsunternehmen iSd. § 3 Nr. 18 EnWG handelt. Fernwärme- und/oder Stromlieferanten sind nicht erfasst. Für sie hat der Bundesrat Unterstützung jedoch bereits angemahnt.

2. Umfang

24 Abs. 1 S. 1 EnSiG vermittelt den betroffenen Energieversorgungsunternehmen das Recht, die Gaspreise gegenüber ihren Kunden auf ein „angemessenes Niveau“ anzupassen. Konkretisiert wird der unbestimmte Rechtsbegriff „angemessenes Niveau“ in § 24 Abs. 1 S. 2 EnSiG durch eine Negativabgrenzung: Eine Preisanpassung ist insbesondere dann nicht mehr angemessen, wenn sie die Mehrkosten einer Ersatzbeschaffung überschreitet, die dem jeweils betroffenen Energieversorgungsunternehmen aufgrund der Reduzierung der Gasimportmengen für das an den Kunden zu liefernde Gas entstehen.

Diese Vorgabe ist nicht im Sinne einer tatsächlich entstandenen Mehrbelastung zu verstehen, sondern schließt die Berücksichtigung fiktiver Ersatzbeschaffungskosten auf nachgelagerten Stufen der Lieferkette ein. Auf der ersten Stufe der Lieferkette, d.h. auf der Ebene der importierenden Gasgroßhandelsunternehmen, können die tatsächlichen Ersatzbeschaffungskosten, auf den nachfolgenden Stufen der Lieferkette die hypothetischen Ersatzbeschaffungskosten, die auf der jeweiligen Lieferstufe anfallen würden, veranschlagt werden:

  • „Tatsächliche Ersatzbeschaffungskosten“ meint alle (Bezugs-)Kosten, die dem importierenden Gasgroßhandelsunternehmen aufgrund von Ersatzbeschaffungsgeschäften infolge Ausfalls eines oder mehrerer Vorlieferanten zur vertragsgemäßen Belieferung des Kunden entstehen. Kosten, die über eine bloße Ersatzbeschaffung hinausgehen, etwa rein vertrieblich begründete Risikoaufschläge, können auf der Grundlage von § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG nicht weitergegeben werden.
  • Hypothetische Ersatzbeschaffungskosten finden ihren Niederschlag in der Weitergabe von Preissteigerungen, die dem jeweiligen Energieversorgungsunternehmen von seinem Vorlieferanten als Kosten der Ersatzbeschaffung in Rechnung gestellt werden.

3. Verhältnis zu vertraglichen Preis-anpassungsregelungen

Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 6 EnSiG sind für Verträge, bei denen Energieversorgungsunternehmen von dem (Sonder-)Preisanpassungsrecht Gebrauch machen, bis zur Aufhebung der Feststellung einer erheblich verminderten Gesamtgasimportmenge vertraglich vereinbarte Preisanpassungsrechte ausgesetzt. Energieversorgungsunternehmen müssen sich daher entscheiden, ob sie Preisanpassungen auf eine vertragliche Regelung oder auf das außerordentliche gesetzliche Anpassungsrecht stützen. Entscheiden sie sich für den Rückgriff auf das (Sonder-)Preisanpassungsrecht, so sind bezogen auf den einzelnen Vertrag für den gesamten, im Vorfeld kaum zuverlässig prognostizierbaren Zeitraum bis zur Aufhebung der Feststellung einer erheblich verminderten Gesamtgasimportmenge vertragliche Anpassungsinstrumentarien ausgesetzt.

4. Rechte der Kunden

Gemäß § 24 Abs. 2 S. 3 EnSiG hat der Kunde bei jeder Preisanpassung nach § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG ein außerordentliches Kündigungsrecht. Ausgeübt werden kann dieses Recht nur unverzüglich nach Zugang der entsprechenden Preisanpassungsmitteilung.

Will oder kann sich der Kunde einer Preisanpassung nicht durch Kündigung entziehen, so kann er bis zur Aufhebung der Feststellung nach § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG alle zwei Monate ab Wirksamwerden der außerordentlichen Preisanpassung ihre Überprüfung und gegebenenfalls die unverzügliche Anpassung des Preises auf ein angemessenes Niveau verlangen. Nach Aufhebung der Feststellung nach § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG sind Energieversorgungsunternehmen, die von dem Sonderpreisanpassungsrecht Gebrauch gemacht haben, verpflichtet, den Preis binnen vier Wochen auf ein angemessenes Niveau zu senken.

5. Bewertung und Ausblick

Mit der von den vertraglichen Regelungen für Preisanpassungen losgelösten und auf die Kosten der Ersatzbeschaffung bezogenen Weitergabemöglichkeit nach § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG ist im Energiesicherungsgesetz nunmehr ein Instrument vorhanden, mit dem die (hohen) Kosten einer Ersatzbeschaffung im Gasvesorgungsnotfall unabhängig von den, auf einen solchen Notfall nicht zugeschnittenen Vertragssystemen an die letztverbrauchenden Kunden weitergegeben werden können.

Das wiederum wirft auf deren (Markt-)Stufe Fragen auf. Abgesehen von der dort vermutlich zahlreich eintretenden finanziellen Überforderung, ist Konsequenz der lieferkettenbezogenen Ausrichtung des § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG, dass unterschiedlich hohe Gaspreise für einzelne Kunden entstehen, je nachdem, in welchem Maße die jeweilige Lieferkette konkret von einem Ausfall von Gasimportmengen betroffen ist.

 

Für Fragen zum (Sonder-)Preisanpassungsrecht nach § 24 Abs. 1 S. 1 EnSiG stehen wir Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung. Sprechen Sie uns an.