Die Behandlung vertragsloser Marktlokationen in höheren Netzebenen

Aus den Urteilen des Bundesgerichtshofs vom 17. September 2024 (Az. EnZR 57/23 und EnZR 58/23) ergeben sich neue Erkenntnisse für die Behandlung vertragsloser Marktlokationen in der Mittelspannungs- und -druckebene. Im Anschluss an eine Analyse der vorgenannten Entscheidungen (dazu 1.) fassen wir die Konsequenzen für die Praxis (dazu 2.), auch im Verhältnis zwischen Lieferunternehmen und Netzbetreibern (dazu 3.), zusammen.
1. Urteile des Bundesgerichtshofs vom 17. September 2024
Streitgegenständlich waren Konstellationen, in denen aufgrund eines systembedingten Fehlers des Stromlieferanten die Marktlokationen mehrerer in Mittelspannung belieferter Letztverbraucher vom (Anschluss-)Verteilnetzbetreiber nicht dem Bilanzkreis des Lieferanten zugeordnet wurden. Stattdessen erfolgte die Zuordnung zum Bilanzkreis des Grund- und Ersatzversorgers, der ebenso wie der Lieferant zur Belieferung der betroffenen Letztverbraucher gewillt war.
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs war diese Zuordnung rechtswidrig. Zwar scheide eine Zuordnung zum Bilanzkreis des Netzbetreibers wegen der entflechtungsrechtlichen Vorgaben aus, und mangels planwidriger Regelungslücke komme auch eine analoge Anwendung der Ersatzversorgungsvorschriften auf die Versorgung von Letztverbrauchern in höheren Netzebenen als der Niederspannung nicht in Betracht. Allerdings müsse sich die Zuordnung danach richten, wer im Einzelfall im Interesse von Netzstabilität und Versorgungssicherheit, aber auch im Interesse der betroffenen Letztverbraucher voraussichtlich am besten in der Lage sei, die Versorgung kurzfristig sicherzustellen. Das sei grundsätzlich derjenige Lieferant, mit dem die letzte vertragliche Lieferbeziehung bestanden habe.
2. Konsequenzen dieser Rechtsprechung für den Umgang mit vertragslosen Entnahmen in der Praxis
Die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 17. September 2024 beziehen sich zwar auf die Mittelspannungsebene, gelten aber für vertragslose Entnahmen im Gasbereich, d.h. in der Mitteldruckebene, entsprechend. Für die Strom- und Gaspraxis ergeben sich deshalb folgende Konsequenzen:
a) Mehrere lieferbereite Lieferanten (Lieferantenkonkurrenz)
Zuzuordnen sind unberechtigte Netzentnahmen in der Mittelspannungs- oder der Mitteldruckebene, soweit es um Fälle einer Lieferantenkonkurrenz geht, grundsätzlich demjenigen Lieferanten, mit dem zuletzt eine vertragliche Lieferbeziehung bestanden hat. Nur wenn dieser nicht mehr verfügbar oder seine Lieferfähigkeit nicht hinreichend gewährleistet ist, kommt eine Zuordnung zum Grund- und Ersatzversorger in Betracht.
b) Kein lieferbereiter Lieferant
Ist der vorherige Lieferant (objektiv) lieferfähig, sind unberechtigte Netzentnahmen trotz fehlenden Lieferwillens dem Bilanzkreis des vorherigen Lieferanten zuzuordnen. Eine bilanzielle Zuordnung der entnommenen Strommengen zum vorherigen Lieferanten scheidet hingegen aus, wenn dieser wegen Geschäftsaufgabe, Insolvenz oder Kündigung des Netznutzungs- oder Bilanzkreisvertrags nicht mehr lieferfähig ist. Im letztgenannten Fall sind unberechtigte Netzentnahmen dem für das Gebiet der Marktlokation zuständigen Grund- und Ersatzversorger zuzuordnen.
c) Neukunden und unbekannte Kunden
Geht es um Marktlokationen, für die vor Beginn vertragsloser Entnahmen kein vertragliches oder gesetzliches Lieferverhältnis des Letztverbrauchers vorhanden war (Neukunden), sind die von Neukunden dem Versorgungsnetz entnommenen Strom- oder Gasmengen dem im Gebiet der jeweiligen Marktlokation tätige Grund- und Ersatzversorger zuzuordnen. In Fällen unbekannter Kunden identifiziert der (Anschluss-)Netzbetreiber zwar die vertragslose Marktlokation, nicht aber den Letztverbraucher. Auch unberechtigte Strom- oder Gasentnahmen unbekannter Kunden sind dem jeweils zuständigen Grund- und Ersatzversorger zuzuordnen.
d) Energiediebstahl
Erfolgt der Strom- oder Gasdiebstahl durch Manipulation der Zähleinrichtung an einem regelgerecht eingerichteten Netzanschluss, gelten die Zuordnungsmaßstäbe nach lit. b) entsprechend. Nur wenn es sich um einen Fall des sog. Schwarzbezugs handelt, sind unberechtigte Strom- oder Gasentnahmen dem (Anschluss-)Netzbetreiber zuzuordnen. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Netzentflechtung liegt insofern nicht vor, weil es an einer willentlichen Zurverfügungstellung von Energie durch den Netzbetreiber fehlt.
3. Zum Verhältnis von Lieferant und Netzbetreiber bei nicht lieferbereiten Lieferanten
Die bilanzielle Verantwortlichkeit des (letzten) Lieferanten beschränkt sich auf die Zuordnung der an der jeweiligen Entnahmestelle entnommenen Energie, sie bezieht sich nicht auf die Netznutzung. Dementsprechend ist das Risiko unberechtigter Netzentnahmen von Netzbetreibern und Lieferanten gemeinsam zu bewältigen. Insbesondere bedarf es eines effektiven Unterbrechungsmanagements, um die unverzügliche Umsetzung von Versorgungsunterbrechungen, ggf. auf Anforderung des Lieferanten, gewährleisten zu können.